Andreas Abegg hat zusammen mit dem ZHAW-Germanisten Bojan Peric empirisch untersucht, wie sich die Rechtssprache insbesondere im Verlauf der Digitalisierung entwickelt hat. Die Publikation kann hier frei heruntergeladen werden: Abegg Peric – Sprache und Sprachgebrauch 2021.
Die wichtigsten Erkenntnisse in Kürze:
Recht ist nur als Sprache begreifbar. Ein sprachlicher Wandel beschlägt somit immer auch das Recht. Dies umso mehr, als die Erstellung von Texten eine Kulturtechnik ist, d.h. sie ist nicht zuletzt von Text-externen Einflüssen abhängig. Es ist somit zu vermuten, dass die Übergänge von handgeschriebenen Texten zu Texten, welche mithilfe einer Maschine verfasst werden, und sodann zu miteinander verbundenen Hypertexten des Computerzeitalters das Recht nachweisbar beeinflussen.
Diese These liesse sich mit punktuellen Untersuchungen stützen, womit aber bestenfalls Indizien gewonnen würden. Wer sich dagegen an eine histoire de longue durée im Sinne von Braudel und an die Frage nach dem Warum des Diskurswandels wagt, setzt sich leicht dem Vorwurf der Spekulation aus. Neue Entwicklungen in der korpuslinguistischen Forschung eröffnen hier einen Ausweg: Der Wandel von Sprachgebrauch und Sprachstrukturen im Recht kann in grossen Textmengen mit einer empirischen Methode untersucht werden. Mit einer entsprechenden Analyse sämtlicher publizierter Bundesgerichtsurteile von 1875 bis 2015 und sämtlicher Botschaften des Bundesrats von 1850 bis 2015 können in der Tat erhebliche Veränderungen im Rechtsdiskurs belegt werden:
- Bei beiden Textsorten finden soziale Veränderungen und relevante Themen der jeweiligen Epoche ihre unmittelbare Entsprechung in der Popularität verwendeter Termini, sei es zu ökologisch-sozialen Themen oder zum Versuch der Vereinbarung europäisch-internationaler mit nationalen Interessen.
- Einschneidende Veränderungen auf sprachlicher Ebene zeigen sich bereits seit den 1970er Jahren: Unter anderem werden seit jener Zeit Nomina vermehrt verwendet, Texte werden erheblich länger und Satzbau sowie Ausdrucksweise werden komplexer.
- Bei Bundesgerichtsentscheiden nehmen die Verweise auf juristische Autoritäten (Gesetze, Bundesgerichtsentscheide, Materialien, rechtswissenschaftliche Literatur) stetig zu. Allerdings verlieren die Selbstreferenzen, d.h. Verweise des Bundesgerichts auf Bundesgerichtsentscheide, seit den 2000er Jahren an Popularität. Sie werden möglicherweise mit der zunehmenden Informatisierung durch informelle Verweise – in der Form von Textbausteinen – ersetzt. Die Botschaften des Bundesrats begründen die Gesetzgebungsprojekte zunächst regelmässig mit gemeinsamen Werten, was aber zunehmend durch Verweise auf juristische Autoritäten ersetzt wird.
Wenn wir einerseits eine zunehmende Komplexität und Abstraktheit in Bundesgerichtsentscheiden und Botschaften des Bundesrats sowie andererseits einen Shift von der Begründung mittels Werten hin zur Nennung von formaljuristischen Autoritäten nachweisen, mag dies dem schweizerischen Ideal der allseits verständlichen Rechtssprache widersprechen. Der empirische Befund eröffnet aber auch qualitative Forschungsfragen, z. B. danach, ob demokratische Gesellschaften im Laufe der Zeit, wie Tocqueville betonte, eine Affinität zu generellen Ideen entwickeln, welche mit einem stetigen Gebrauch von allgemeinen Begriffen und abstrakten Ausdrücken dargestellt werden.